Wohin mit den Millionen Vertriebenen?
Vertriebene als Verwaltungsproblem
Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches 1945 übernahm die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) die oberste Regierungsgewalt in ihrer Besatzungszone. Sie traf alle Entscheidungen zur Aufnahme der Vertriebenen in der SBZ. Dabei verfügte sie anfangs weder über ein Konzept zur Eingliederung der Vertriebenen noch kannte sie das Ausmaß der Fluchtbewegungen. Die Vertriebenen, die in der SBZ eintrafen, blieben zunächst weitgehend sich selbst überlassen. Trotz Mobilitätsverbot versuchten sich viele einer Registrierung durch die Militärbehörden zu entziehen und suchten Zuflucht bei Verwandten oder Bekannten.
Ab Sommer 1945 erlangte die zivile Verwaltung auf regionaler Ebene allmählich wieder ihre Funktionsfähigkeit. Allerdings konnten die Behörden weder die genaue Zahl der Vertriebenen in ihrem Zuständigkeitsbereich zuverlässig bestimmen noch deren Wanderungsbewegungen nennenswert lenken. Forderungen nach einer überregionalen Instanz wurden lauter.
Im September 1945 gründete die SMAD die „Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler" (ZVU). Sie entschied fortan über die Unterbringung und Versorgung der Betroffenen, steuerte die regionale Verteilung und verhinderte Abschiebung und Aufnahmeverweigerung in zahlreichen Gemeinden.
Bereits 1948 wurde die ZVU wieder aufgelöst und ihre Aufgaben auf das Innenministerium übertragen. Eine eigenständige Umsiedlerpolitik und -verwaltung hatte damit ein schnelles Ende gefunden.
Die Sowjetische Militäradministration ging von der Endgültigkeit der Westverschiebung Polens und der Oder-Neiße-Grenze aus. Eine Rückkehr der Deutschen in die Gebiete jenseits von Oder und Neiße war nicht verhandelbar. Deshalb waren die Vertriebenen dauerhaft anzusiedeln. Darunter verstand die SMAD nicht nur die Bereitstellung von Wohnraum und Arbeitsplätzen. Ein eigenständiges Sonderbewusstsein der Vertriebenen galt als Hemmschuh für die Eingliederung und wurde entschieden bekämpft. In einem Zusammenspiel sicherheits-, wirtschafts- und sozialpolitischer Instrumente versuchte die SMAD, die Vertriebenen durch gezielte Verbesserung ihrer Lebenslage zuerst politisch zu neutralisieren, um sie danach für eine Unterstützung der SED-Politik zu gewinnen.
Zu Beginn der 1950er Jahre war eine soziale Gleichstellung der Vertriebenen mit der einheimischen Bevölkerung längst nicht erreicht. Vielmehr ist die Weiterwanderung von etwa 900.000 Vertriebenen aus der sowjetischen in die westlichen Besatzungszonen ein deutliches Indiz dafür, dass SMAD und SED die Vertriebenen nicht von der Überlegenheit des sozialistischen Systems gegenüber Demokratie und sozialer Marktwirtschaft des Westens überzeugen konnten.
© Ute Schmidt, Flüchtlingsmilieus in der SBZ / DDR
Die Tabelle zeigt die Bevölkerung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) mit Stand November 1945.
Die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen war im November 1945 mit rund 4,5 Millionen und 25,3 % im Verhältnis zu den Folgejahren am höchsten. Insbesondere in Mecklenburg-Vorpommern war die Zahl der Ankommenden, bedingt durch die Nähe zu den Provinzen Brandenburg, Pommern und Ostpreußen sehr hoch. Mecklenburg- Vorpommern hatte die höchste Aufnahmequote und den höchsten Anteil der Vertriebenen an der Gesamtbevölkerung. In manchen Gemeinden überstieg die Zahl der Ankommenden die Anzahl der alteingesessenen Bevölkerung. Im Laufe der Jahre reduzierte sich die Zahl der Vertriebenen und Flüchtlinge durch Abwanderung in die westlichen Besatzungszonen oder Wegzug in andere Regionen der SBZ. So waren im Januar 1950 noch 983.154 Vertriebene in Mecklenburg-Vorpommern und 685.913 in Thüringen registriert, in Brandenburg dagegen stieg die Zahl auf 666.860, in Sachsen auf 997.789. Sachsen-Anhalt blieb mit 1.051.024 nahezu konstant.
© Heike Amos, Die Vertriebenenpolitik der SED 1949-1990
Die Tabelle zeigt die Bevölkerung der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) mit Stand November 1949.
Die Zahlen geben den Stand der Wohnbevölkerung und den darin enthaltenen absoluten und prozentualen Anteil der Vertriebenen in der DDR im November 1949 wieder. Unter den 4,3 Millionen Vertriebenen waren 1,9 Millionen Frauen, 1,2 Millionen Männer und 1,2 Millionen Kinder. In den Jahren 1945-1951 variieren die Zahlen der Vertriebenen, weil die unterschiedlichen Vertreibungswellen sich immer wieder auf die absoluten Ankunftszahlen zum Zählzeitpunkt auswirkten. Darüber hinaus zogen die Menschen trotz Zuzugsverbot in die westlichen Besatzungszonen, um sich mit ihren Familien zu vereinigen oder weil sie sich bessere Lebensbedingungen erhofften.
SED zu Umsiedlerpolitik
Die weitere Existenz besonderer Umsiedler-Verwaltungsstellen könnte in seiner Konsequenz dazu führen, dass der Verschmelzungsprozess durch die Herausstellung scheinbarer Umsiedler-Sonderinteressen behindert wird. […] Ansätze zur Bildung besonderer Umsiedlerorganisationen und Gruppen sind mit den, den Innenministerien zur Verfügung stehenden Mitteln, zu unterbinden.
© Manfred Wille, Die Vertriebenen in der SBZ/DDR, Dokumente (Auszug aus einer Ausarbeitung der Abteilung Landespolitik des Parteivorstandes der SED om 8. November 1948, SAPMO-Bundesarchiv)
In einer ausführlichen Rede vor Mitgliedern der KPD und SPD in Potsdam im Februar 1946 beschrieb die Dortmunder Kommunistin Magda Sendhoff die Situation um die Bewältigung der Flüchtlingsnot
Im Moment sollen 1 ½ Millionen Umsiedler, von Polen kommend, in die englische Zone transportiert werden. Die ersten organisierten Züge von Osten nach Westen sind Anfang voriger Woche gerollt. Es besteht jedoch die Gefahr, dass wegen zu wenig Aufnahmebereitschaft im Westen der Pole erneut wieder nach Brandenburg einschleusen wird und wir müssen dann den Aufgaben gewachsen sein. Die anderen Provinzen haben den Vorzug, dass sie nicht direkt der Einschleuspunkt sind und sie nutzen ihn so, dass sie sich nach Möglichkeit gegen die Aufnahme sperren. Die Provinz Brandenburg ist einfach gezwungen, weil die Menschen hereingepumpt werden, diese jetzt zu versorgen. Das ist besonders zu unterstreichen, weil unsere Provinz an sich am schlechtesten dran ist, einmal durch die Zerstörungen durch die Kriegsereignisse und weil sie auch ernährungsmässig am schlechtesten dasteht. Wenn man rechnet, dass die 1⁄4 Million Umsiedler, die nur durchgeschleust wurden, durchschnittlich mindestens 10 Tage in Brandenburg ernährt wurden, so kann man sich vorstellen, welche Lebensmittelmengen Brandenburg aufbringen musste. […] Die letzten Transporte sahen z. B. folgendermaßen aus: Ein Transport von 1.100 Personen umfasste 50 alte Männer, ca. 450 Frauen, davon die Hälfte über 50 Jahre, ca. 550 Kinder, von denen 80 Waisenkinder waren. Unter den Männern befanden sich 6, die fast erblindet […] und 2, die ganz erblindet waren. So sieht also ein üblicher Umsiedlertransport aus. Trotz allem muss man immer wieder sehen, dass es sich um Menschen handelt, die ein Recht darauf haben, wieder irgendwo eine Heimat, ein Dach über dem Kopf zu fi nden. Man muss immer wieder davon ausgehen, dass man das Möglichste herausholen muss, um aus diesen Menschen Arbeitskräfte zu gewinnen. Es muss dafür gesorgt werden, dass bei der Überzahl der Frauen mit Kindern Kindergärten entstehen, um dadurch die Frauen zu entlasten und sie für die Arbeit freizumachen. Wir können diese Frauen mit Kindern nicht nur als Wohlfahrtsempfänger übernehmen.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Hausen statt Wohnen
Durchgangslager und Unterkünfte
Die Vertriebenen kamen auf verschiedenen Wegen und mit unterschiedlichen Transportmitteln in die SBZ. In Personenzügen, Güter- und Viehwaggons, mit Schiffen über die Ostsee, mit Pferdewagen oder auch zu Fuß strömten sie unorganisiert in das Land und fanden eher zufällig eine neue Bleibe.
Nur wenige fanden in den eigenen familiären Strukturen eine Unterkunft. Die meisten waren auf kommunale Unterkünfte angewiesen, die auch erst organisiert werden mussten. Die SMAD ordnete im September 1945 an, dass alle "entwurzelten Menschen" zunächst in Lagern zusammengefasst und untersucht werden mussten. Die Umsiedlerlager dienten vor allem der verordneten Quarantäne, um die Ausbreitung von Seuchen und anderen Krankheiten zu verhindern. In der gesamten SBZ entstanden hunderte kleinerer Lager in den Kleinstädten und Landgemeinden, so z. B. die "Graue Kaserne" in Pirna in Sachsen, in Altenburg, Eisenach, Sonneberg in Thüringen. In Brandenburg wurden über 80 Lager eingerichtet, deren Aufnahmekapazität bis zu 125.000 Menschen umfasste. Am Ende des Jahres 1945 war die Zahl auf über 600 Lager angewachsen.
Die Versorgung und Ausstattung waren oft ungenügend. Es gab keine ausreichenden sanitären Einrichtungen oder Krankenabteilungen. Eine zentrale Koordinierung der Unterbringung und Versorgung entwickelte sich im Laufe des Jahres 1946. Zahlreiche Kleinlager wurden daraufhin aufgelöst oder zusammengelegt. Die verbliebenen Bewohner sollten möglichst schnell in festere Unterkünfte entlassen werden.
Schlösser und Gutshäuser boten Platz für zahlreiche Vertriebene, meist konnte eine Flüchtlingsfamilie ein Zimmer bewohnen. In seltenen Fällen durften die früheren Besitzer in einem Zimmer des Gutshauses wohnen bleiben, besonders, wenn sie betagt waren. Viele Vertriebene zogen in den kommenden Jahren in andere Unterkünfte, aus den enteigneten Gutshäusern wurden öffentliche Einrichtungen wie Schulen oder Altersheime. Es gab aber auch ehemalige Gutshäuser, die noch bis zum Ende der DDR 1989Ÿ90 von Vertriebenen und deren Nachkommen bewohnt wurden.
Ähnlich wie in die Gutshäuser wurden Vertriebene auch in Bahnhöfe einquartiert. Nebenstrecken wurden stillgelegt. An vielen kleinen Bahnhöfen schuf die Reichsbahn das Amt des Bahnhofsvorstehers ab. Die freiwerdenden Dienstwohnungen wurden mit Vertriebenen belegt. Auf diese Weise wurden hunderte von Bahnhöfen in der SBZ einer neuen Bestimmung zugewiesen.
Auch Pfarrhäuser dienten den Flüchtlingen vorübergehend als Unterkunft. Viele Pfarrer nahmen in ihre Häuser Familien auf und versorgten sie.
Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst
Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN) war die zugelassene Nachrichten- und Bildagentur der DDR. Er nahm eine Monopolstellung ein bei der Belieferung fast aller Zeitungen, dem Funk und Fernsehen der DDR sowie der befreundeten Medien im Ausland mit Nachrichten, Berichten, Fotos mit überregionalem Charakter und Artikeln. Der ADN unterstand offiziell dem Ministerrat der DDR und wurde angeleitet und beaufsichtigt vom zentralen Parteiapparat der SED.
Die Bildbestände sind vom Bundesarchiv übernommen worden. Einige der hier verwendeten Bilder stammen vom ADN und verfügen über eine historische Bildunterschrift, die tendenziell und propagandistisch ausgerichtet sein kann. Bei der Übernahme der historischen Originalbildbeschreibung in die Bildunterschrift ist dies gekennzeichnet.
Rechtsverordnung über Quarantänepflicht
Eine thüringische ,Rechtsverordnung über Quarantänepflicht' legte fest: ,Wer in das Land Thüringen einreist, hat sich unverzüglich in einem der Durchgangslager Altenburg, Eisenach, Erfurt oder Gera zu melden, damit er von dort bis zur Dauer von zwei Wochen einem Quarantänelager überwiesen werden kann.' Erst der Nachweis über eine absolvierte Quarantäne ermöglichte es den Vertriebenen, Lebens- mittelmarken zu erhalten und Wohnraum zugewiesen zu bekommen.
Sepp Werner über die Ankunft und Versorgung in Pirna
Die „Graue Kaserne“ sollte unsere erste Bleibe werden. Nach Ankunft in dem alten und großen ungenutzten Kasernengebäude wurden wir in einen großen Saal eingewiesen. Der riesige Raum war vollgestellt mit Stockbetten. Jeder konnte eine Schlafstätte belegen, wobei ich, als Jüngster unserer kleinen Familie, die obere Etage gewählt habe. Die Leute waren teilweise verängstigt, aber auch neugierig darauf, was die Zukunft für uns bringen wird. Die Anweisung der Behörde soll befolgt werden und die Leute sollen das ohnehin eingezäunte Kasernengelände nicht verlassen. Nach einem weiteren Aufruf wurden folgende Maßnahmen durchgeführt: Entlassung, Gesundheitskontrolle und Registrierung. Für die Leute war es vor allem wichtig, sich erst mal ordentlich zu reinigen. Der Aufenthalt in den Kasernengebäuden und die Unterbringung in dieser Form war für alle Familien nur schwer zu ertragen.
© Sepp Werner, Die Graue Kaserne, Bericht im Selbstverlag, 2017
Auszug aus einem Bericht über die katholische Flüchtlingsseelsorge im Quenz-Lager in Brandenburg an der Havel vom Januar 1947
Das Lager ist einfach. Die Leitung gibt sich alle Mühe, aber die Not ist zu groß. In den einzelnen Räumen sind etwa 40 Personen zusammen. Große und Kinder. Betten mit etwas Stroh, manchmal auch mit einer Matratze. In einem Bett liegt eine 92-jährige sterbende Frau, daneben sitzt ein 4-jähriges spielendes Kind. Eine alte Frau hockt auf ihrem Bündel, man hat ihr alles weggenommen, jetzt läßt sie das Bündel nicht mehr los, das will sie behalten. Gegen 16 Uhr wird es dunkel. Es gibt Stromsperren, mehrere Stunden, und wenn der Strom da ist, dann fehlen die elektrischen Birnen. Sie sind irgendwann gestohlen, und ein Ersatz war noch nicht möglich. Da sitzen nun die Menschen in der Dunkelheit 40 bis 45 in einem Raum, vom Säugling bis zum Greis, etwa 15 Stunden lang, bis der Morgen kommt. Kleidung, Schuhe und Wäsche, was für eine Not. „Wenn man doch wenigstens mal ein Hemd zum Wechseln hätte, um dieses waschen zu können“ sagt ein Mann, der früher 400 Morgen besaß. Die Verpfl egung geht nach Karte 4, wie die Leute sonst sie auch haben, aber andere Leute haben einen kleinen Garten, oder mal hier und da Bekannte, diese Menschen haben nichts. Mittags nur Kohlsuppen. Wie freuen sich die Menschen über eine Schnitte trocken Brot. Eine Frau sagt mir strahlend: „O, Herr Pfarrer, ich habe was Feines bekommen.“ Meine Gemeindeschwester hatte ihr drei Schnitten Brot gegeben.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Betty Haupt berichtet über ihre Ankunft in Thüringen
Am 13. Februar 1948 kamen wir in Heiligenstadt, Thüringen, an. Wir wurden in einer großen Schule 14 Tage lang untergebracht. Was uns selbstverständlich als normales Dasein angesehen wurde, von dem konnte bei uns keine Rede mehr sein. Wir wurden in den umliegenden Ortschaften bei Familien untergebracht, die uns jedoch nicht gerne aufnehmen wollten! Zum Teil wurden Heimatvertriebe in Ställen untergebracht, obwohl in den Häusern Platz für sie gewesen wäre. Inzwischen hatten wir Kontakt mit meinem Vater, er war aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen und nach Oldenburg gekommen. Wir durften aber aus der damaligen sowjetisch besetzten Zone nicht ausreisen, mussten erst einen Ausreiseantrag stellen. Als nach fünf Monaten noch kein Bescheid kam, sind wir im Winter Februar 1949 eines Nachts über die Grenze nach Westdeutschland (20 km) gegangen. Es wurden einige Formalitäten erledigt und wir fuhren weiter nach Oldenburg.
© Brigitte Neary, (Hg.), Frauen und Vertreibung, Zeitzeuginnen berichten, Aresverlag 2008
Stasibericht Umsiedler in der DDR vom 11. Juli 1956
Anlass zu Verärgerungen geben noch häufig die Wohnungsverhältnisse der Umsiedler. Häufig fühlen sich die ehemaligen Umsiedler gegenüber der anderen Bevölkerung benachteiligt – vereinzelt berechtigt – zum anderen haben sie teilweise kein Verständnis für die tatsächlich noch vorhandene Wohnungsnot. Schlechte Wohnverhältnisse für Umsiedler, z. T. aber auch für die übrige Bevölkerung wurden uns aus den Kreisen Pritzwalk, Neuruppin und aus den Gemeinden Blumenow und Alt-Thymen, Kreis Gransee und Bezirk Potsdam gemeldet. Da sich viele Umsiedler aus diesen Gegenden schon jahrelang bemühen, eine gute Wohnung zu bekommen, sind diese unzufrieden. Von den Umsiedlern wird immer wieder erklärt, „wenn wir zu Hause wären, hätten wir Wohnraum“.
© BStU, MfS, AS 81/59, Bl. 122–156
Stasibericht Umsiedler in der DDR vom 11. Juli 1956
In der Gemeinde Pötzschau, [Kreis] Borna, welche am 17. Juni 19 53 Schwerpunkt war, konnte festgestellt werden, dass der Bürgermeister dieser Gemeinde sehr krasse Unterschiede zwischen Einheimischen und Umsiedlern macht und sich dann noch über d ie Unzufriedenheit der Umsiedler wundert. So wurde d ie Umsiedlerin [Name 10] aus ihrer Wohnung herausgenommen und der erzreaktionäre Pfarrer d ieser Gemeinde bekam deren Wohnung. Darüber war d ie ehemalige Umsiedlerin sehr verärgert und äußerte, dass sie lieber heute als mor gen nach Ostpreußen zurück möchte.
© BStU, MfS, AS 81/59, Bl. 122–156
Stasibericht Umsiedler in der DDR vom 11. Juli 1956
Die ehemalige Umsied lerin, beschäftigt im Elektro-Stahlgusswerk Leipzig als Küchenfrau, ist sehr verärgert, dass ihr bis jetzt noch kei ne größere Wohnung zugewiesen wurde. Sie lebt seit drei Jahren mit vier erw achsenen Personen in zwei Zimmern. In der Gemeinde Gager, [Kreis] Rügen, leben 120 Umsied ler aus Schlesien und der CSR in Baracken. Diese Baracken entsprechen bei W eitem nicht den Bedürfnissen dieser Menschen. Ein großer Teil von diesen 120 Personen ist stark religiös (vorwiegend gehören sie der Neuapostolischen Gemeinde an).
© BStU, MfS, AS 81/59, Bl. 122–156
Vertriebene unerwünscht
Versorgung mit Wohnraum
Der Zweite Weltkrieg hatte enorme Zerstörungen der Bausubstanz in den Gebieten, die nach Kriegsende zur Sowjetischen Besatzungszone wurden, hinterlassen. Verschärft wurde der Wohnraummangel durch die große Zahl von Vertriebenen, die seit Kriegsende in die Gebiete der SBZ strömten. Viele Vertriebene wurden durch die zuständigen sowjetischen und deutschen Behörden in ländlichen Regionen angesiedelt. Dort waren die Zerstörungen geringer als in den Städten. Die "Umsiedler" wurden meist in Bauernhöfen und Privathäusern auf dem Land zwangseinquartiert. Oft war diese Unterbringung nur von kurzer Dauer. Einheimische versuchten durch Eigenbedarfsklagen die neuen Untermieter loszuwerden. Auch aus vielen öffentlichen Gebäuden wurden Vertriebene bald wieder ausgewiesen, nachdem diese der Polizei, dem sowjetischen Militär oder anderen Behörden zur Nutzung überlassen worden waren.
Die Ansiedlung der Vertriebenen in politisch brisanten Gebieten sollte vermieden werden. Schon 1946 gab die Sowjetische Militäradministration in Thüringen die Weisung heraus, keine Vertriebenen in unmittelbarer Nähe zur innerdeutschen Demarkationslinie anzusiedeln. Die Vertriebenen sollten keinen Kontakt zu Bewohnern der westlichen Besatzungszonen haben. Hier nahm die Vertriebenenpolitik schon Teile des späteren Grenzregimes der DDR vorweg. Ab 1952 war auch für die übrigen Bürger der DDR eine Ansiedlung im Sperrgebiet an der Grenze kaum noch möglich. Stattdessen wurden tausende Menschen innerhalb kürzester Zeit aus der Region entlang der innerdeutschen Grenze ins Landesinnere zwangsumgesiedelt, teilweise ohne dass ihnen vorher das Ziel genannt wurde.
Für die Vertriebenen gab es kaum spezielle Bauprogramme. Im Zuge eines Neubauernbauprogramms der SMAD wurden allerdings zwischen 1947 und 1952 einige Tausend Neubauernhäuser als Streckhöfe errichtet. Sie verbanden alle Funktionsbereiche unter einem Dach: Wohnteil, Stall und Scheune. Sie basierten meist auf Typenentwürfen der Hochschule für Architektur und Wohnungswesen in Weimar.
Ab den 1950er Jahren zogen viele Vertriebene in die entstehenden Plattenbausiedlungen am Rande der Städte, die vornehmlich für Industriearbeiter und deren Familien errichtet wurden.
© Torsten Mehlhase, Flüchtlinge und Vertriebene in Sachsen-Anhalt, Münster 1999
Tabelle zur Wohnungssituation in den Ländern der Sowjetischen Besatzungszone
Die Versorgung der Vertriebenen mit Wohnraum war im gesamten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg dramatisch. Die Neubautätigkeit während des Krieges lag brach, die Kriegszerstörungen waren unvorstellbar und Millionen Menschen wollten untergebracht werden. Die Tabelle zeigt, dass in der SBZ rund zwei Millionen und in Berlin über eine Million Wohnungen fehlten.
Unangemeldet kommen Vertriebene aus Schlesien, eine Mutter mit Sohn, im Herbst 1945 zu einem Verwandten in die Uckermark. Der damals achtzehnjährige Sohn berichtet
Wir machen uns bemerkbar. Der Onkel und seine Frau kommen fast gleichzeitig. Sie erkennen uns nicht. Wir müssen uns vorstellen. Staunen und beklommene Stimmung. Wir reagieren feinfühlig aus der Defensive. Aber: Kommt herein, setzt euch, erzählt. Und wir erzählen wieder, wie schon bei Tante Martha. Sie verstehen. Doch der Onkel fragt trotzdem, wann wir wieder weiter wollen. Verständlich! Wir bleiben einige Tage. […] Meine Mutter hat inzwischen Bekannte meines Vaters, aus seiner Lehrzeit als Dachdecker, aufgesucht. Sie bewohnen ein kleines Haus in der Nähe […]. Diese Familie nimmt uns freundlich auf. Wir können unbegrenzt bleiben. Eine kleine Dachkammer mit zwei Betten, einem Schrank, einem Tisch mit zwei Stühlen wird für die nächste Zeit unser Zuhause. Es geht auf die Mitte Oktober 1945 zu.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Eine aus Christianstadt am Bober (östliche Niederlausitz) vertriebene Mutter mit vier Kindern berichtet über ihre Ankunft am 26. Juni 1945 in Forst (Lausitz)
Der Soldat marschierte ab. Wildfremde Menschen wurden so in der Gartenstraße Nr. 26 zu mitternächtlicher Stunde der mütterlichen Obhut von Frau Jahn und ihrem halbwüchsigen Sohn Kutti überlassen. Nachdem diese schlichte Bauersfrau von unserem Schicksal erfahren hatte, stellte sie ohne viel Worte köstlich duftendes Bauernbrot, Schmalz und Gersten-Kaffee auf den Tisch. Während wir unseren Heißhunger stillten, räumte Mutter Jahn mit tatkräftiger Hilfe des Sohnes in ihrer guten Stube Tisch und Stuhle zur Seite und schüttete viel Stroh auf die Dielen. 13 Christianstädter Frauen, Männer und Kinder betteten nebeneinander dankbar ihre müden Häupter auf das Stroh in dieser uns noch so fremden Stadt.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Ein im Januar aus Hinterpommern Vertriebener beschreibt seine Lagerentlassung
Eines Tages endete das Lagerleben. Es war an einem sonnigen ersten Mai, als wir in einer kleinen märkischen Stadt eine bescheidene Dachwohnung bezogen. Einige gebrauchte Sachen, die zuletzt im Lager verteilt worden waren, luden wir auf einen Handwagen, den uns eine Arbeiterin dort geliehen hatte. Als wir den Wagen mit seinen Rädern aus von Eisenreifen gehaltenen Holzspeichen mit lautem Geklapper und Gepolter über das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße vom Lager zur Wohnung zogen, hörten wir aus einiger Entfernung hell und kraftvoll schmetternde Marschmusik. […] Es war der erste Mai des Jahres 1946 in Storkow in der Mark.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Hilfe für Umsiedler aus den Ostgebieten in Querfurt – Aufopferungsvoller Einsatz von Frauen in der Nachkriegszeit – Ein Bericht von Gerda Lucke, Leipzig
Da auch viele Kinder mit auf der Flucht waren, ging ich in die Schule zu meiner früheren Klassenlehrerin und bat zu helfen, dass jeder Schüler ein Spielzeug spendet. Das Ergebnis war toll. Jeder brachte etwas mit. So konnten wir auch den Flüchtlingskindern, die das Wort „spielen“ kaum noch kannten, eine Freude machen. Das Spenden und Sammeln ging ständig weiter, denn es kamen immer neue Hilfsbedürftige. Einmal erhielt meine Mutter nachts die Mitteilung, dass gegen 6 Uhr ein Zug mit entlassenen Gefangenen für einige Stunden bei uns hielt. Das hieß für meine Schwester und mich, die anderen sieben Frauen aus dem Bett holen, den Bademeister verständigen damit er das Warmwasserbad anheizt, geeignete Kleidung bereitstellen und beim Essenkochen mithelfen. Die Versorgung und die Betreuung erlebte ich leider nicht, da ich zur Arbeit musste. Aus den Einsätzen der fleißigen und stets einsatzbereiten Frauen wurde später eine Daueraufgabe. Als Beispiel sei die Aufnahme von Umsiedlern genannt, die künftig in unserer Stadt wohnen wollten, aber oft keine persönlichen Sachen mehr hatten. Sie erhielten Unterkünfte, die meist erst instandgesetzt und wohnlich gemacht werden mussten und in der Regel nur mit dem aller Notwendigsten ausgestattet waren. Deshalb wurden die Spendenaktionen auch auf Möbel, Geschirr, Haushaltsgegenstände, Gardinen usw. erweitert. Diese langanhaltende schwere ehrenamtliche Arbeit und die Versorgung auch alter, alleinstehender kranker Menschen, wurde später in Querfurt zur Keimzelle für die Volkssolidarität.
© Hilfe für Umsiedler aus den Ostgebieten in Querfurt (uni-leipzig.de)
Eine im September 1945 aus Schwiebus ausgewiesene Mutter mit elfjährigem Sohn kam nach zehntägiger Güterzugfahrt in Neuruppin an. Der Sohn hat später Erinnerungen an die erste Zeit der Unterkunftssuche niedergeschrieben
Wir trafen eine Frau Gebauer aus Schwiebus. Bei dieser Familie, der Mann war Briefträger, durften wir auf dem Fußboden übernachten, um nicht auf der Straße bleiben zu müssen. Am nächsten Tag ging es wieder auf Wohnungssuche. Dreimal liefen wir zu Fuß von Neuruppin bis Bechlin ca. 5 km, um Formalitäten zu erledigen. Einmal fehlte die Zuzugsgenehmigung, dann die Einweisung usw. Beim dritten Mal sagte uns ein Gemeindeangestellter (Bechliner), dass uns eine Frau Arndt aufnehmen werde. Diese Wohnung war nicht vom Wohnungsamt beschlagnahmt. Daher konnten wir sie ohne jede Formalitäten erhalten. Frau Arndt wohnte in Neuruppin bei ihren Eltern, da ihr Mann gefallen war. Ihre Bechliner Wohnung stand leer. Wir durften einziehen. Ihre Möbel durften wir alle benutzen. Nach unseren vorherigen Verhältnissen konnten wir jetzt wieder menschlich leben, obgleich wir sehr ausgehungert waren und die Verpflegung ausgesprochen schlecht war. Zu einer Mahlzeit aß ich mal 35 Pellkartoffeln, zur anderen 10 Stullen. Tagtäglich gingen wir Kartoffelnstoppeln. Am 1. Oktober begann die Schule.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Solidarität in der Not
Versorgung mit Kleidung, Möbeln und Hausrat
Die in der SBZ ankommenden Vertriebenen hatten in der Regel nur wenige Gegen- stände des täglichen Bedarfs wie Kleidung, Geschirr oder Möbel aus der alten Heimat mitnehmen dürfen. Die meisten kamen nur mit einem Rucksack und Handkarren.
Nach der beschwerlichen Flucht mussten sie sich in den Ankunftsregionen selbst um die Beschaffung mit den notwendigsten Gütern und ihre Versorgung kümmern. In vielen Orten wurden spontane Hilfsaktionen von Einheimischen oder Kirchengemeinden ins Leben gerufen.
Ab Sommer 1945 entstanden auf regionaler und örtlicher Ebene überparteiliche und kirchliche Hilfsorganisationen, die sich um die dringendsten Nöte der Vertriebenen kümmerten. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Bahnhofsmission, die Vertriebene mit Getränken und Nahrungsmitteln versorgte. Diese Organisation diente der SMAD als Vorbild für die im Oktober 1945 gegründete "Volkssolidarität". Sie sollte über- regional die Versorgung der Hilfsbedürftigen auf dem Gebiet der SBZ koordinieren. Zu dieser Gruppe zählten neben den "Umsiedlern" auch Ausgebombte, Waisenkinder und Kriegsheimkehrer. An der Volkssolidarität beteiligten sich neben den zugelassenen Parteien und Massenorganisationen wie Gewerkschaften, Jugendorganisationen und Frauenverbänden auch die Kirchen. Die Organisationen konnten durch ihre Kontakte auch Hilfsgüter und Spenden aus dem westlichen Ausland wie etwa aus Schweden bereitstellen. Unter der einheimischen Bevölkerung sammelte die Volkssolidarität Geld- und Sachspenden.
Im Herbst 1946 und Frühjahr 1947 wurden von den lokalen Verwaltungen im Rahmen von "Umsiedlerwochen" Möbel- und Hausratssammlungen organisiert. In Sachsen standen sie unter dem Motto "Neue Heimat - Neues Leben". In allen fünf Ländern der SBZ blieben die Resultate dieser Spendensammlungen jedoch deutlich hinter den Erwartungen und Bedürfnissen zurück.
Erst 1950 gab es für Vertriebene zinslose Kredite bis zu 1.000 Deutsche Mark zum Kauf von Einrichtungsgegenständen.
Oswald Wöhl, geb. 1941 in Neustadt an der Tafelfichte, Sudetenland berichtet
Am Deich der Elbe bin ich entlanggegangen und sah vor mir einen Schnür- schuh liegen, den ich aufhob in der Hoffnung, dazu noch den zweiten zu finden. Ich hatte Glück, ich fand noch einen, sie passten zwar nicht zueinander, aber es waren ein rechter und linker Schuh. Wie glücklich war ich, dass ich endlich ein paar Schuhe an meinen Füßen hatte, denn bisher lief ich nur mit Korkeln, das sind Holzsohlen mit Lederriemen.
Das im Jahre 2023 aufgenommene Interview kann über den Button abgerufen werden
Volkssolidarität
Die Hilfsorganisation Volkssolidarität VS entstand im Oktober in Dresden und wurde in den darauffolgenden Monaten an vielen Orten in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands gegründet. Sie konzentrierte sich in dieser Zeit auf jene, die am schwersten unter den Folgen des Krieges zu leiden hatten und unterstützte insbesondere Kinder, Alte und Kranke, Vertriebene und heimkehrende Kriegsgefangene.
Später entwickelte sie sich zu einer Massenorganisation in der DDR und hatte eine wichtige Bedeutung bei der Betreuung älterer und sozial schwacher Menschen. Seit der Vereinigung umfasst der Arbeitsbereich auch die Betreuung chronisch Kranker, Pflegebedürftiger, sozial Benachteiligter sowie von Kindern und Jugendlichen. Die Volkssolidarität ist Mitglied im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband.
Eine junge ostpreußische Vertriebene (geb. 1929) berichtet über die Ernährungslage bei Ankunft in Brandenburg
Es war Anfang April 1946. Nach der Flucht aus dem polnisch besetzten Gebiet und Aufenthalten in verschiedenen Flüchtlingslagern wurde uns in Wendisch- Rietz-Siedlung eine Unterkunft zugewiesen. Außer einem Rucksack und den Sachen, die wir am Leibe hatten, besaßen wir nichts. […] Der Hunger war zu der Zeit groß. Mittags durften sich damals Flüchtlinge aus dem ehemaligen Ottos Hotel, später Hans-Loch-Heim, ein kärgliches Mittagessen holen. Dort wurde in einem großen Kessel täglich eine Suppe gekocht, die recht dünn war und auch unansehnlich aussah, da die Kartoffeln mit Schalen verarbeitet wurden. Die Brotrationen waren zu dieser Zeit sehr klein, so dass man ständig von Hunger geplagt war. Es gab für uns Flüchtlinge nur einen Ausweg: über die Dörfer zu ziehen und bei den Bauern um ein paar Kartoffeln zu betteln. Nur selten erbarmte sich jemand und gab uns ein paar Kartoffeln. Die Not war groß. Die Berliner kamen in Scharen und tauschten ihre Habseligkeiten wie Teppiche, Kleidung, Schmuck u.a. in Kartoffeln und Lebensmittel um, denn jeder wollte überleben. Wir hatten nichts zu bieten und mussten meist leer ausgehen. Ein Fahrrad besaßen wir nicht, so hatten wir täglich viele Kilometer zu laufen.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Oswald Wöhl, geb. 1941 in Neustadt an der Tafelfichte, Sudetenland berichtet
Ich hatte nichts großartig zum Anziehen, keine festen Schuhe sondern welche aus Igelit, so nannte sich das, eine Gummiart. Um nicht zu frieren, haben wir dann Häcksel, also klein gehacktes Stroh hineingegeben oder wenn irgendwo Zeitungspapier zu beschaffen war, hineingelegt, das wärmt ja bekanntlich. Das Allerschlimmste, wo wir schon so wenig Nahrungsmittel hatten: wenn die Felder abgeerntet waren und man als letztes, um alles zu retten, mit der sogenannten Hungerhake, einem Rechen, über die Felder gefahren waren, dann durften wir sogenanntes Ährenlesen durchführen, also die verbliebenen Ähren sammeln. Sie wurden in einen Sack gegeben und mit Holzknüppeln geschlagen, damit sich die Körner aus den Ähren lösten. Dann blieb bekanntlich das Korn aber mit der Spreu. Dann wurden Schüsseln oder Tücher genommen, da wurde das hineingeschüttelt und bei Wind immer wieder ausgepustet, bis allein die Körner blieben. Es war nicht viel. Und wenn man etwas gesammelt hatte, sind wir in die benachbarte Mühle gegangen, das war eine Wassermühle, gespeist durch den Fluss Schaale, zum Müllermeister Pamprin mit der Bitte, er möge uns das zu Schrot oder wenn es noch besser ist, zu Mehl malen.
Das im Jahre 2023 aufgenommene Interview kann über den Button abgerufen werden
Dr. Edith Kiesewetter-Giese, geb. 1935 in Neu Titschein, Sudetenland berichtet
Nein, in der Nähe von Stendal. Der Ort hieß Vienau. Das war ein kleines Dorf in der Altmark. In der Altmark, in dem kleinen Dorf gab es ein Rittergut. Und dieser Rittergutsbesitzer, der hat uns dann aufgenommen. Da haben wir zwei Zimmer bekommen und einen Strohsack, auf dem wir schlafen konnten. Und als wir uns ein bisschen wieder gut gefühlt haben, sind meine Eltern auf das Gut arbeiten gegangen. Das war gerade die Zeit der Kartoffellese und im September bin ich dann in dem kleinen Ort in die Schule gegangen. Wir hatten nichts zu essen. Wir haben Brennnesseln gesucht und haben aus Brennnesseln Spinat gemacht. Es war ein Dorf, wo die Leute geschlachtet haben und wir sind fast verhungert. Man muss es jetzt mal so sagen, […] Und ich bin dann immer Kartoffellesen nach der Schule gegangen und habe dann immer einen Topf voll Kartoffeln mit nach Hause genommen. Das war das Einzige, was wir zu Essen hatten..
Das im Jahre 2023 aufgenommene Interview kann über den Button abgerufen werden
Enteignung – Verteilung – Kollektivierung
Die Bodenreform
Ab Anfang September 1945 traten auf Anordnung der SMAD von den Provinzial- und Landesverwaltungen beschlossene Gesetze zur Durchführung einer Bodenreform in Kraft. 3,3 Millionen Hektar Agrarflächen wurden entschädigungslos enteignet.
Vor allem in den nordöstlichen Gebieten der SBZ, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, war der Anteil an Großgrundbesitzern traditionell sehr hoch. Unter
der Parole "Junkerland in Bauernhand" wurden Grundbesitzer mit mehr als 100 Hektar Fläche sowie Kriegsverbrecher und NS-Funktionäre, aber auch Verfolgte der NS-Diktatur entschädigungslos enteignet. Die Betroffenen verloren Grund und Boden, aber auch Immobilien und persönlichen Besitz. Viele Betroffene flüchteten in die Westzonen. Andere wurden durch die SMAD in Speziallagern interniert, teilweise abgeurteilt und in die Sowjetunion deportiert. Das enteignete Land floss in einen staatlich gelenkten Bodenfonds und wurde auf lokaler Ebene durch Bodenkommissionen neu verteilt. Neben den bisher abhängig beschäftigten Landarbeitern und Kleinbauern gehörten auch die "Umsiedler" zur Gruppe der Begünstigten.
Durch die auf breite Zustimmung unter den Erwerbern stoßende Bodenreform sollte eine soziale Neugliederung der Flächen und eine Existenzgrundlage in den ländlichen Regionen geschaffen werden. Den "Neubauern" sollte ein sicheres Auskommen durch die Bewirtschaftung eigener landwirtschaftlicher Flächen ermöglicht werden. Bis 1949 wurden 2,2 Millionen Hektar Land an 560.000 Personen verteilt. Etwa 1/3 der enteigneten Flächen ging in Staatsbesitz über. Vertriebene erhielten 43,3 % aller Neubauernstellen- und 34,9 % des enteigneten Bodens. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 24,2 %. Insgesamt erhielten 91.155 Vertriebene eine Stelle als "Neubauer". Im Durchschnitt betrug die zugeteilte Hofgröße acht Hektar.
Die SED stellte die Bodenreform als Beispiel für die gelungene Integration der Vertriebenen dar. Tatsächlich war ihre Wirkung trotz anfänglicher Zustimmung sehr beschränkt. Nur circa 8 % der Vertriebenen profitierte von der Bodenreform. Aufgrund fehlender landwirtschaftlicher Geräte, Viehbestände und mangelnder Wirtschaftlichkeit gaben viele "Neubauern" ihr Land nach wenigen Jahren in die 1952 gegründeten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ab. Durch die schrittweise Kollektivierung der Landwirtschaft seit den 1950er Jahren verloren auch die wirtschaftlich erfolgreichen "Neubauern" ihre Selbständigkeit und mussten die Flächen und Höfe in die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) einbringen.
Nach der Deutschen Wiedervereinigung 1990 kam es zum juristischen Streit über die Rechtmäßigkeit der Bodenreform, weil die Enteignungen der Jahre 1945-1949 nicht zurückgenommen wurden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Klagen von Bodenreformopfern und ihren Erben 1991 und 1996 zurückgewiesen, weil es von einem sowjetischen Restitutionsvorbehalt ausging.
Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG)
Die LPG war ein landwirtschaftlicher Großbetrieb in der DDR nach dem Vorbild der sowjetischen Kolchosen mit vollständiger Integration der Landwirtschaft in das staatliche Planungs-, Leitungs- und Bilanzsystem. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die rund 600.000 bäuerlichen Betriebe von der ehemaligen DDR-Regierung zunächst animiert, dann nach und nach zur Aufgabe der selbständigen Bewirtschaftung gezwungen worden. An die Stelle der ursprünglichen Betriebe traten LPG und Volkseigene Güter (VEG), die in ihren Arbeitsweisen und Zielen die Interessen der sozialistischen Gesellschaft umsetzen sollten. Die LPG waren geprägt durch die gemeinsame Arbeit ihrer Mitglieder in der Genossenschaft, die durch die Zusammenlegung von Grund und Boden, des Eigentums ihrer Mitglieder, entstanden. Grund und Boden blieben rechtlich Privateigentum, das Nutzungsrecht ging aber auf die LPG über.
Überleben und Auskommen
Eingliederung in den Arbeitsmarkt
Für die SMAD und die DDR-Regierung war Arbeit Kernbestand des neuen sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates. Das Recht auf Arbeit für alle Bürger und die Pflicht zu Arbeit als Beitrag zu einer idealisierten klassenlosen Gesellschaft versprachen den Menschen eine gute Zukunft. Die politische Führung in der SBZ und ab 1949 der DDR setzte bei der Integration bzw. Assimilation der Heimatvertriebenen von Beginn an
auf deren Einbindung in die neue sozialistische Arbeitswelt. Der Staat brauchte die Menschen als Arbeitskräfte und die Menschen brauchten Arbeit, um nach dem Krieg und Verlust der materiellen Existenz Zukunftsaussichten zu entwickeln. Dies betraf neben den sozialistischen Reformen in der Landwirtschaft auch die neuen staatlich gelenkten Betriebe. Obwohl anfangs viele Vertriebene mangels Alternativen in der Landwirtschaft tätig wurden, zogen sie später in die Städte, um in den dort entstandenen Betrieben zu arbeiten.
Entscheidend dafür waren die neuen Arbeitsmöglichkeiten in der Industrie seit Beginn der 1950er Jahre. Die Ausgangssituation der industriellen Entwicklung in der DDR war aufgrund der sowjetischen Demontagen bedeutend schlechter als in der Bundesrepublik. Die staatlich gelenkte Wirtschaft zielte seit Beginn der 1950er Jahre auf den massiven Ausbau der Schwerindustrie. Der daraus resultierende Bedarf an Arbeitskräften bot vor allem den Jüngeren neue Perspektiven. In Sachsen etwa herrschte seit Ende
der 1940er Jahre ein großer Mangel an Arbeitskräften in der Textilindustrie, der durch mehrere tausend Facharbeiter aus Nordböhmen teilweise kompensiert werden konnte. Ebenso fanden viele Vertriebene Arbeit in den Berg- und Hüttenwerken in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Die großen industriellen Neubauprojekte, wie das Erdölverarbeitungswerk Schwedt in Brandenburg oder das Chemiekombinat Leuna in Sachsen-Anhalt zogen seit den 1960er Jahren sowohl Arbeiter aus der alteingesessenen Bevölkerung wie auch Vertriebene an.
Durch die Flucht gut ausgebildeter Angehöriger der bürgerlichen Schicht und von Gegnern des SED-Regimes bis zum Bau der Berliner Mauer 1961 wurden Plätze in der Industrie und Wirtschaft frei, die auch von gut ausgebildeten Vertriebenen besetzt werden konnten. Je mehr sich Vertriebene mit den sozialistischen Zielen des Staates und der Partei "identifizierten", desto größer wurden die Chancen eines beruflichen Aufstiegs.
Das Wirtschaftssystem der DDR war als Planwirtschaft nach dem Vorbild der UdSSR angelegt. Das gesamte wirtschaftliche Geschehen wurde zentral nach politischen und wirtschaftlichen Zielvorstellungen geplant, gelenkt und verwaltet. Die Entwicklung der Selbständigkeit, ob im Handwerk, im Gewerbe oder der freiberuflichen Tätigkeit war nicht gewünscht und wurde erschwert oder behindert.
Recht auf Arbeit und Pflicht zur Arbeit
Seit der Gründung der DDR hatte jeder Bürger das Recht auf Arbeit und zugleich auch die Pflicht zu arbeiten zum eigenen und zum Wohle der sozialistischen Gesellschaft. Seit 1968 stand Arbeitsverweigerung durch § 249 des Strafgesetzbuches offiziell unter Strafe.
Art. 15 der DDR-Verfassung 1949
Seit der Gründung der DDR hatte jeder Bürger das Recht auf Arbeit und zugleich auch die Pflicht zu arbeiten zum eigenen und zum Wohle der sozialistischen Gesellschaft. Seit 1968 stand Arbeitsverweigerung durch § 249 des Strafgesetzbuches offiziell unter Strafe.
Art. 24 der DDR-Verfassung 1968
Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Arbeit. Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend den gesellschaftlichen Erfordernissen und der persönlichen Qualifikation. Er hat das Recht auf Lohn nach Qualität und Quantität der Arbeit. Mann und Frau, Erwachsene und Jugendliche haben das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeitsleistung.
Wie wichtig Arbeit und Unterkunft in der Zeit waren, beschreibt eine Ostpreußin (geb. 1926) in ihren Erinnerungen
Im September 1945 bekamen Mutter und ich bei Erna Krohl im Grünen Weg 29 Arbeit und Wohnung. Meine Mutter sollte Frau Krohls 90-jährige Tante und ihre 85-jährige Mutter betreuen. Dabei half ich natürlich. Wir hatten es wunderbar getroffen, es blieb mit Frau Krohl eine Freundschaft auf Lebenszeit. […] Meine Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt [Herbst 1945] eine Nebenbeschäftigung. Sie wusch mit anderen Frauen zusammen Wäsche für das russische Militär. Im Spätsommer 1945 eröffnete Herr Dietz in einer Baracke eine Werkstatt zur Herstellung von Regenmänteln. Eigentlich war er Schirmfabrikant und hatte eine Filiale in Königsberg gehabt, aber es fehlten zu den geretteten Stoff en leider die Gestelle. Er stellte ungefähr ein Dutzend Frauen ein, hauptsächlich Schneiderinnen. Meine Königsberger Tante und ich wurden auch eingestellt, obwohl ich keine Schneiderin war. Wie glücklich waren wir, etwas verdienen zu können, denn alle Reichsmark-Konten waren zu dieser Zeit gesperrt.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Eine 1928 geborene Teilnehmerin eines im Schloss Dallmin (Westprignitz) 1947/48 durchgeführten Neulehrer-Lehrgangs, selbst nicht vertrieben, berichtet
In Dallmin war ich mit 100 jungen Leuten für elf Monate in einem Schloss zu Hause. Wir hatten alle das gleiche Ziel – wir wollten Lehrer werden in einem neuen Staat, von dem wir noch nicht viel wussten, der uns aber diese Chance bot. […] Es waren überwiegend ehemalige Flüchtlinge, Ausgebombte, Soldaten und Kriegsgefangene, die sich ernsthaft und hartnackig für ihren zukünftigen Beruf vorbereiten wollten.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Eine junge Vertriebene (geb. 1929) beschreibt ihre Lage 1946
Nach der Flucht aus meinem Heimatland Ostpreußen, einer beschwerlichen Reise mit Treck und Güterzug, verbunden mit trostlosen Aufenthalten in vielen Flüchtlingslagern, fand ich im März 1946 mit meiner Mutter und den Geschwistern eine erste Bleibe in Behrensdorf, Brandenburg. Mein Vater war Soldat und wir wussten zu diesem Zeitpunkt nicht, ob er den Krieg überlebt hat. Der Hunger war groß und außer den Sachen, die wir am Leib hatten, besaßen wir nichts. Wie glücklich war ich, als ich einige Wochen später im dortigen Kinderheim eine Arbeit fand. Ich wurde, obwohl erst siebzehnjährig, als Betreuerin für 25 Kinder von 0-14 Jahren eingesetzt. Drei Säuglinge sowie Findelkinder gehörten zu meiner Gruppe, die irgendwo elternlos aufgegriffen worden waren. Der Lohn war ein Taschengeld, aber er ermöglichte für meine Familie den Hunger etwas einzuschränken.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Ein 1926 geborener Kriegsheimkehrer, der 1949 aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkehrte, später Offizier der Volkspolizei wurde, hat seinen Weg als Heimatloser beschrieben
Als ich mich noch in russischer Gefangenschaft befand, wurden meine Eltern 1946 als Deutsche aus dem Sudetenland ausgesiedelt. In einem Brief, den ich 1949 im Lager erhielt, erfuhr ich, dass sie in Lubast, Kreis Wittenberg, ihr neues Zuhause gefunden hatten. Darum führte mich mein Weg aus der Gefangenschaft am 1. April 1949 über Frankfurt / Oder, Berlin-Anhalterbahnhof in Richtung Wittenberg. […] Als ich das Haus betrat, fand ich mein neues jämmerliches Zuhause. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Nach fünf Jahren Trennung und Warten und einem spärlichen Weg hatten wir uns wiedergefunden. Nun gingen die normalen amtlichen Regelungen vonstatten und die Suche nach Arbeit begann. Bei einem Friseurmeister konnte ich am Wochenende ein paar Mark verdienen, aber es reichte nicht zum Leben. Auf dem Arbeitsamt konnte man mir nur eine Arbeit nachweisen: Erzbergbau in Johanngeorgenstadt. Ich sagte zu. […] Als ich im Herbst 1949 wieder einmal bei meinen Eltern weilte, wurde ich angesprochen, ob ich mich nicht zur Volkspolizei melden wollte. Es war eine schwere Entscheidung, nach zwei Jahren Arbeitsdienst und vier Jahren Gefangenschaft wieder eine Uniform anzuziehen. Aber da die Zustände im Erzbergbau katastrophal waren und für mich fast unerträglich wurden, ging ich diesen Weg. Ich meldete mich freiwillig und kam zur HVA, dem Vorläufer der kasernierten Volkspolizei, zu der ich am 10. Dezember 1949 nach Brandenburg / Havel, Dienststelle Hohenstücken, eingezogen wurde.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Bericht über die Genossenschaft für Glas- und Bijouteriewaren im Dorf Zinna, welches 1951 in Neuheim umbenannt wurde
Im Dorf Zinna sind unter den 560 Einwohnern viele ehemalige Sudetendeutsche Glasbearbeiter, zumeist aus Gablonz. 38 Spezialarbeiter haben sich zu einer Genossenschaft zusammengefunden und wollen ihre[r] bekannte[n], Gablonzer Schmuckwarenindustrie wieder den Ruhm in der Welt verschaffen, den sie einst in ihrer Heimat hatte. Die Genossenschaft stellt Knöpfe, Ringe, Broschen, Anhänger, Ketten, imitierte Edelsteine, zumeist aus Glas mit Metallfassungen, her. Die Landesregierung hat eine großzügige Planung vorgesehen, bis zum Herbst soll eine Fabrik entstehen, die 200 Arbeiter beschäftigen und weiteren 200 Heimarbeitern Lohn und Brot sichern soll. Im dritten Quartal sollen Schmuckwaren im Werte von 300.000 RM hergestellt werden. Geplant ist vor allem, diese Gablonzer Schmuckwaren wieder zu exportieren. In diesem Zusammenhang ist der Bau von 30 Siedlungshäusern geplant, die Grundsteine sind bereits gelegt. Der Bau kann nur langsam fort-gesetzt werden, da Facharbeiter und Materialschwierigkeiten bestehen.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Das System bestimmt das Leben
Sozialer Status
Durch die Vertreibung verloren die Menschen Grund und Boden, Besitz, Beruf, Arbeitsplatz und auch ihren sozialen Status. Das Ziel der Vertriebenen war es, in der neuen Umgebung ein auskömmliches Leben zu organisieren und langfristig den früheren Status zu erreichen. Die Realitäten in der DDR gaben dafür systemspezifische Räume und Bereiche vor. Anpassung an das politische System, Begeisterung für die sozialistische Idee oder Opposition waren Indikatoren, die den Aufstieg in der sozialistischen Gesellschaft positiv oder negativ beeinflussten.
Während die Vertriebenen in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorwiegend in ländlichen Gebieten mit geringer Bevölkerungsdichte angesiedelt wurden, zogen viele in den 1950er Jahren in die Groß- und Industriestädte der DDR. Dort fanden sie in den neu entstandenen Industriezentren Arbeit und Wohnung. Die urbane Gesellschaft absorbierte die Vertrieben. Auf dem Land blieben vor allem die Älteren zurück. Sie waren nicht in der Lage oder gewillt, noch einmal ihren Wohnort zu wechseln und aus ihrer Notsituation herauszukommen. Vielmehr waren sie auf die staatliche Fürsorge angewiesen, wenn ihre Rente nicht zum Leben ausreichte.
Es entstand eine deutliche Kluft zwischen den Generationen innerhalb der Vertriebenen.
Ältere Menschen waren von der Flucht und der Ablehnung durch die einheimische Bevölkerung noch immer traumatisiert. Sie wurden von den Behörden und der örtlichen Bevölkerung nachteilig behandelt bzw. vernachlässigt. Nahrungsmittel, Wohnraum und Kleidung wurde vorrangig an die arbeitsfähigen Vertriebenen verteilt. Auch das Umsiedlergesetz aus dem Jahre 1950 benachteiligte Rentner und Erwerbsunfähige, da es vorrangig Kredite für die arbeitende Schicht gewährte. Besonders für ehemals selbständige Bauern, Handwerker oder Gewerbetreibende war der soziale Abstieg nach 1945 sehr tief. Umso mehr klammerten sie sich an ihre Erinnerungen und schotteten sich gegenüber der übrigen Bevölkerung ab.
Die Generation der Kinder und Enkelkinder war motiviert, sich ein neues Leben unter veränderten Bedingungen aufzubauen, insbesondere wenn sie sich den unterschiedlichen sozialistischen Organisationen anschlossen und sich in eine Gemeinschaft einbringen konnten. Für die jüngeren Vertriebenen waren die Erinnerungen an die alte Heimat und den Besitzverlust weniger hemmend. Sie waren mobiler und konnten dorthin ziehen, wo Arbeitskräfte gebraucht wurden. Das allgemeine Wirtschaftswachstum der 1950er Jahre bot ihnen Arbeitsmöglichkeiten und Aufstiegschancen. Zudem knüpften sie schneller Kontakte zur einheimischen Bevölkerung und beschränkten sich nicht auf das Milieu der Vertriebenen.
Heinrich Melzer, geb. 1940 in Brunnersdorf, Sudetenland berichtet
Und da hat Vater auch Arbeit gefunden. Aber dort ergab sich das ganz schnell – er hat ja nun auch viele Leute im Ort kennengelernt und ein guter Bekannter, aber ein Einheimischer, sagte zu meinem Vater: „Heinrich, Du bist doch Landwirt, da ist eine Landwirtschaft zu pachten.“ Und die hat dann mein Vater gepachtet. Und dann sind wir in die Landwirtschaft gezogen. Ich habe das noch so Erinnerung, dass damit meine Eltern nochmal richtig aufgelebt sind. Sie hatten eine eigene Landwirtschaft wieder.
Das im Jahre 2023 aufgenommene Interview kann über den Button abgerufen werden
Hans Modrow, geb. am 27. Januar 1928 in Jasenitz, Pommern fand in dem neuen politischen System seine Zukunft
Wir sangen vom neuen Leben, das anders werden sollte. Wir hatten ein Ziel vor den Augen. Als junger Antifaschist anerkannt zu werden, mit dabei zu sein, wenn ein wahrlich neues Deutschland aus der Asche und den Trümmern steigt – das genau wollte ich; das genau musste sich, auf möglichst geradlinigen Wege, erfüllen. In Erinnerung habe ich eine große Aufbruchstimmung.
© Hans Modrow, Ich wollte ein neues Deutschland, Berlin 1998
Historische Einordnung
Die Vertriebenen waren keineswegs immer und überall eine sozial im Abstieg begriff ene Randgruppe, dazu war auch die Ausgangsposition der Einheimischen bei Kriegsende oft genug viel zu schwierig. Da die Neuankömmlinge in die nicht selten monostrukturell geprägten brandenburgischen Kleinstädte und Dörfer häufi g berufl iche Diff erenzierungen mitbrachten und, wenn die Ernährung endlich ausreichte, auch eine besondere Motivation zum Neuanfang hatten, bereicherten sie zum Teil nicht nur ihre neuen Heimatorte, sondern erleichterten damit selbst ihre eigene Integration.
© Peter Bahl, Belastung und Bereicherung, Vertriebenenintegration in Brandenburg ab 1945, Berliner Wissenschaftsverlag 2020
Dr. Edith Kiesewetter-Giese, geb. 1935 in Neu Titschein, Sudetenland berichtet
Der rote Faden in meinem Leben war: Ich wollte die Verhältnisse, die wir zu Hause hatten, wiederhaben. Und das wollte ich über Bildung und meine eigene Arbeit machen. Das war immer mein Ziel. […] Also ich bin nach Elsterwerda gefahren, habe dort vier Jahre lang die Oberschule besucht, habe dort mein Abitur gemacht, konnte nur Weihnachten nach Hause fahren, weil es so weit war und weil ich kein Geld hatte. Und ich kriegte ein Stipendium, das waren 60 Mark für das Internat und 15 Mark Taschengeld. Ich kam mir reich wie eine Prinzessin vor. […] Meine Direktorin in der Oberschule kam aus Prag, war eine Deutsche, die war auch vertrieben, sie war eine ganz tolle Frau. Und die hat immer […] ihre Hände über mich gehalten. […] Und die hat dann gesagt: „Edith, pass mal auf, wenn du noch studieren willst, da musst du irgendwo eintreten […]. Wenn du das nicht machst, da kriegst du todsicher keinen Studienplatz.“ So, ich bin immer so ein bisschen ferngelenkt worden, aber durch ganz liebe Menschen, muss ich dazu sagen, dann habe ich „Ja“ gesagt für Architektur. […] Und da bin ich abgelehnt worden, weil ich kein Arbeiter- und Bauernkind war, weil mein Vater Selbständiger war. Und damit war er ja ein Kapitalist. So, also was mache ich dann? Und studieren wollte ich auf jeden Fall. […] Ja, und dann habe ich gedacht, in der Altmark hast du Landwirtschaft gemacht, da hast du eigentlich eine Landwirtschaftslehre hinter dir. […] Und da habe ich mich für Landwirtschaft beworben und das war die Zeit, wo es anfing, die Landwirtschaft lichen Produktionsgenossenschaften zu gründen. Und da brauchten die leitende Kader. Ich habe mich dann auf Tierzucht spezialisiert und bin eigentlich sehr gut damit gefahren, muss ich sagen. Ich habe in Halle an der Saale fünf Jahre Landwirtschaft studiert und dann auf einem Zuchtbetrieb gearbeitet. […]
Das im Jahre 2023 aufgenommene Interview kann über den Button abgerufen werden
Literaturhinweis
Die Publikation „Geglückte Integration? Spezifika und Vergleichbarkeit der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/DDR“ aus dem Jahre 1999 enthält mehrere Beiträge von Historikern wie Ute Schmidt, Marcel Boldorf, Dierk Hoffmann, Manfred Wille und Silvia Schraut zu Integration der Vertriebenen in Westdeutschland, zum Politischen System, zur Integrationspolitik in der SBZ/DDR und zu weiteren Themen. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis zum Thema rundet das von Dierk Hoffmann und Michael Schwartz herausgegebene Werk ab.
© Hoffmann, Dierk und Schwartz, Michael. Geglückte Integration?, Spezifika und Vergleichbarkeiten der Vertriebenen-Eingliederung in der SBZ/DDR, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 1999
Geglückte Integration?
Teil 1:
- Vertriebenen-Integration in Westdeutschland
- Politisches System und Integrationspolitik in der SBZ/DDR
- Integrationspolitik und Wirtschaft
Teil 2:
- Soziale Probleme der Vertriebenen-Integration
- Vertreibung und Integration als Lebens-Erfahrung
- Laufende Forschungsprojekte zur Vertriebenenintegration